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Psychologie
#6
(Auszug aus der CA Sitzung 36 mit Georg Lind)

Demokratische Kompetenz und demokratische Orientierung

Dr. Georg Lind war bis 2010 Professor für Psychologie an der Universität Konstanz, freier Autor und Lehrerausbilder. Sein Hauptinteresse galt der Moral- oder demokratischen Kompetenz und deren Abgrenzung zur moralischen oder demokratischen Orientierung. 


Die moralische oder auch demokratische Kompetenz ist nach Lind die Fähigkeit, Argumente anhand ihrer moralischen Qualität zu beurteilen sowie die Fähigkeit der Problem- und Konfliktlösung durch Denken und Diskussion.

Denkfähigkeit in diesem Zusammenhang meint aber nicht die Fähigkeit zu einem kontemplativen Denken, sondern die Fähigkeit, zwischen gegensätzlichen Gewissheiten abzuwägen, moralische Dilemmas zu lösen und mit Andersdenkenden zu diskutieren, auch und gerade dann, wenn die Angst das Denken und Diskutieren zu lähmen droht.


Die demokratische Orientierung oder auch Gesinnung ist dagegen für die lebendige Demokratie wertlos. Sie meint in diesem Zusammenhang die Meinungs- und Autoritäts-Konformität. Die demokratische Orientierung lässt sich im Gegensatz zur demokratischen Kompetenz zwar simulieren („Ich bin Demokrat“, „Ich würde niemals Rechts wählen“, …), kann jedoch recht einfach enttarnt werden:

Demokratisch und moralisch inkompetente Menschen gehen auf Argumente nicht ein, sondern beurteilen diese auf Basis der Übereinstimmung mit der eigenen Meinung. Ihre Mittel der Konfliktlösung sind Gewalt und Zerstörung, Betrug, Ignorieren oder die Unterwerfung unter eine Autorität.

Selbst die besten Argumente prallen an ihnen ab, selbst die unsinnigsten werden verwendet, wenn sie die eigene Meinung stützen. Dies zeigt sich eindrücklich im von Lind selbst entwickelten MKT (Moralische Kompetenz-Test). Dieser misst drei Parameter:
  • Die Orientierung an der Meinungs-Konformität des Arguments
  • Die Orientierung an der Autorität des Forschers
  • Die Orientierung an der moralischen Qualität des Arguments
Der Index für Moralkompetenz im MKT ist der “C-Wert” (für Competence). Die Skala reicht von 0 bis 100:
  • 0: Der Teilnehmer kann eine Meinung nicht von einem Argument unterscheiden
  • 20: Der Teilnehmer akzeptiert (fast) alle meinungs-konformen Argumente völlig(”+4″) und lehnt (fast) alle Gegenargumente völlig ab (”-4″)
  • 50: Der Teilnehmer akzeptiert stützende Argumente nur in dem Maß, wie er sie für moralisch angemessen hält
  • 100: Der Teilnehmer akzeptiert auch Gegenargumente, wenn er sie für moralisch angemessen hält

Der MKT: Links ein Beispiel für volle Ablehnung oder Übereinstimmung unabhängig von der Qualität der Argumente (geringster C-Score), rechts teilweise oder volle Ablehnung oder Übereinstimmung abhängig von der Qualität der Argumente (hoher C-Score)

Für Deutschland liegt nach den Erhebungen von Georg Lind der mittlere Score bei unter 20, also in einem Bereich, in dem Demokratie eigentlich nicht möglich sein sollte bzw. gefährdet ist.




Ein pädagogischer Ansatz zur Verankerung demokratischer Kompetenz in der Gesellschaft

Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Zusammenarbeit sind nach Lind ohne demokratische Kompetenz nicht zu halten, ohne diese eine Demokratie nicht dauerhaft. Der Mangel an Denkfähigkeit sei aber nicht, wie Kant meint, vom Einzelnen selbst verschuldet, sondern Folge einer ungenügenden Vorbereitung der Menschen auf das Leben in einer Demokratie durch die Schule.

Linds Ansatz für eine demokratischere Gesellschaft ist folglich pädagogischer Art, nämlich die gezielte Schulung der Fähigkeit, Probleme und Konflikte demokratisch durch Denken und Diskutieren zu lösen, die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) als Grundlage der Heranbildung moralischer Kompetenz bereits im Schulalter.

Im Gegensatz zu anderen Ansätzen steht dabei nicht das Dilemma selbst im Vordergrund – welches häufig nicht eindeutig gelöst werden kann und dessen Lösung vorzugeben nicht Aufgabe des Trainers sein kann – sondern die Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten.

Ziel ist also nicht die Vermittlung einer erwünschten moralischen oder ideologischen Position bzw. einer Konformitität mit extern vorgegebenen Normen, sondern das Anregen und die Entwicklung eigenen moralischen Denkens, die Vermittlung von Einsicht auch für Argumente von „Nicht-Freunden“ und die Erzielung von Angstfreiheit beim Vorbringen eigener Ansichten.

In der Dilemmadiskussion nach der Methode KMDD werden (vorgegebene) Argumente gemäss den Kriterien des o.g. MKT diskutiert. Sie hat nur wenige einfache Regeln:
  • In Übereinstimmung mit Art.5 GG darf darf jede Ansicht geäussert werden
  • Persönliche Wertung (Lob, Tadel) ist nicht erlaubt.
  • Der Redner bestimmt jeweils den nachfolgenden Redner aus der „gegnerischen“ Gruppe und übernimmt während der Rede des Nachfolgers selbst die Moderation.
  • Der Lehrer oder Coach zieht sich nach der An-Moderation als Moderator zurück.
  • Dauer: 90 Minuten
  • Teilnehmer: Zwei „gegnerischen“ Gruppen zu jeweils 3-4 Teilnehmern
  • Häufigkeit: Nur etwa jährlich (um Ermüdung und Übersättigung zu unterbinden).


Lt. Georg Lind sind durch Anwendung von KMDD im Gegensatz zu anderen Methoden mit geringem zeitlichen Aufwand erhebliche Verbesserungen im MKT-Score zu erreichen, d.h. eine stärkere Gewichtung der Qualität der Argumente und somit eine Stärkung der moralischen und demokratischen Kompetenz.



Ausblick
Bei einem systematischen Roll-Out würden je Schule nur ein oder zwei entsprechend geschulte Lehrkräfte gebraucht. Diese Methode könnte ein einfacher und vor allem realistischer Ansatz sein, unserer Gesellschaft innerhalb weniger Jahre ihre demokratische Basis wiederzugeben.




Zitat:Die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Menschen entspringen keinem bösen Willen, keiner Machtgier, keinem religiösen oder moralischen Fanatismus, auch nicht ungerechten Verhältnissen, sozialen Spannungen oder anderen materiellen Ursachen, sie sind allein Früchte moralphilosophischer und politikphilosophischer Inkompetenz -  Konsequenzen einer ungenügenden Aufklärung über die maßgeblichen kausalen Zusammenhänge.

Thomas Hobbes, Begründer der modernen Staatstheorie, 1588-1679

Quellen und Verweise

dieBasis Podcast #73
Vandalismus - Ausdruck demokratischer Orientierung

schule-bw.de
Ablaufschema KMDD: Einführung in die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) von Georg Lind, Universität Konstanz (PDF)
Sammlung Dilemmata
Lind: Panik als Seuche
Georg Lind zum MKT: Wie kann man moralische Orientierung im Verhalten erkennen?
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